Kinderarbeit

Wenn ihr in Brüssel lebt, seid auch ihr wahrscheinlich schon hundertmal an der Börse vorbeigelaufen und habt nichts bemerkt. Vielleicht habt Ihr gedacht: ziemlich klotzig, ziemlich überladen… Vielleicht habt ihr auch gelesen, dass Rodin an dem einen oder anderen Fries mitgearbeitet hat… und habt euch weiter nicht gekümmert. Und so habt ihr eine schreiende Offensichtlichkeit einfach ÜBERSEHEN!

Das ändert ihr mit der Lektüre von « Monumental – Macht und Architektur in Brüssel » von Manuel Schmitz (Endlichverlag und leider nur auf Deutsch).

In seinem Kapitel über die Börse, stellt er nicht nur klar, dass diese Börse lieber eine Oper geworden wäre, sondern lenkt unseren Blick auch auf ein eigentlich nicht zu übersehendes Detail, nämlich dass auf allen Seiten der Börse pummelige Kinder ARBEITEN. Hier betreiben Sie Buchdruck, dort Viehzucht, hier bauen Sie Maschinen und Eisenbahnen und dort tummeln Sie sich am WEBSTUHL und im BERGBAU!

Wir sind im Jahr 1873, als die Börse eingeweiht wird. Belgien ist führende Industriemacht auf dem europäischen Kontinent und in ihren Zechen und Textilfabriken arbeiten TAUSENDE KINDER!

Im Jahr 1874 arbeiten allein im Kohlerevier Charleroi ganz offiziell 3494 Jungen und Mädchen zwischen 10 und 15 Jahren unter Tage.

Der liberale Gelehrte Auguste Wagener, der sich für ein allgemeines Grundschulsystem einsetzte, zählte 1856 alleine für den Industriezweig „Spitze“ in Flandern 19.785 junge Arbeiterinnen, die „ab dem Alter von 6 Jahren zur Arbeit verdammt sind“. Diese fand häufig in so genannten Klöppelschulen statt. Der Arbeitstag in diesen Schulen konnte 10, 12 und 15 Stunden dauern, nur unterbrochen von Katechismus, Drill zum Erlernen höflicher Umgangsformen (besser gesagt: Untergebenheit) und frommen Gesangsstunden. Andere Quellen sprechen sogar von 5 Jahren als Eintrittsalter.

Die gut genährten Engelchen, die sich auf der Börse spielerisch mit Kohlewagen vergnügen, waren in Wirklichkeit kleine unterernährte und von der Arbeit geradezu verformte Gespenster.

1841 beschreibt sie ein gewisser Dr. Schoenfeld, im Rahmen einer (an die Fabrikbesitzer gerichteten) Umfrage so:

"Oft werden sie eingesetzt, um (...) die mit Kohle beladenen Wagen zu ziehen oder zu schieben (...). Die jungen Arbeiter müssen manchmal wegen der geringen Höhe des Stollens kriechen und binden sich einen Gurt um den Körper, der mit einer Kette endet, die am Wagen oder Waggon hängt. Er zieht ihn dann, so gut er kann, auf Händen und Füßen hinter sich her, während ein anderes Kind, das hinter dem Wagen steht, ihn mit dem Kopf und den Händen vor sich herschiebt. Sie werden, wie es die Arbeiter ausdrücken, von der Grube zerquetscht. (Sie sind) mal kaltem Durchzug, mal Hitze ausgesetzt und haben ständig mit Kohlenstaub und schädlichen Gasen zu kämpfen. (...) Die Arbeiter, die die Wagen ziehen, fallen in der Regel durch ihre rachitische Konstitution auf."


Kinder bewachten auch die Türen in den Minen, die vor gefährlichem Luftzug schützen. Sie mussten bei jeder Durchfahrt eines Wagens geöffnet und anschließend wieder geschlossen werden. Sie taten dies „gewöhnlich in totaler Finsternis, da ihnen nicht immer Licht zur Verfügung gestellt wird, und in einer sehr feuchten Umgebung, und dies während der gesamten Dauer des Arbeitstages. Diese Kinder erreichen oft einen Zustand des Stumpfsinns, den sie ihr ganzes Leben lang beibehalten, unabhängig von der Beeinträchtigung ihrer körperlichen Konstitution".

Andere "Ärzte" mischten sich jedoch auf andere Weise in die Debatte ein.

So schrieb ein gewisser Dr. Hanot 1846: "Ich behaupte und habe den Beweis dafür, dass es unendlich gefährlicher ist, einen ausgewachsenen Mann in den Bergbau hinabsteigen zu lassen als ein kleines Kind; ich gehe noch weiter und sage, dass es zwar grausam aber gut für das Kind ist, das man für den Beruf des Bergmanns bestimmt, es frühzeitig hinabsteigen zu lassen, denn, ich wiederhole, man gewöhnt sich an alles, und es ist im jungen Alter, wie ich es bewiesen habe, dass man sich darum bemühen muss, dies zu erreichen. Dieses Kind wird sich daran gewöhnen, auf Leitern zu klettern; es wird sich daran gewöhnen, sich von sauerstoffarmer Luft zu ernähren; die unbequemen Stellungen, die man bei dieser Art von Arbeit einnehmen muss, werden ihm vertraut werden; es wird seine Ernährung frühzeitig seiner Atmung anpassen (...) seine Brust wird keine unnötige und für ihn gefährliche Größe annehmen".

Er beschreibt eine sogenannte „Phase der Akklimatisierung“, die er zwar als hart aber als wünschenswert für das Kind befindet:

"Bei seinem Eintritt in die Bergmannsarbeit vollzieht sich eine vollständige Revolution seiner Gewohnheiten, seiner Lebensweise. Es steht nun um zwei Uhr morgens auf, und man weiß, welchen Einfluss der Schlafentzug auf die Gesundheit hat, vor allem auf die eines Kindes: Den Weg zur Grube, in der es arbeitet, muss es durch die Witterungsbedingungen aller Jahreszeiten zurücklegen ; es wird Leitern hinabsteigen, schlechte Luft einatmen, in eine mehr oder weniger unbewegliche und unbequeme Haltung gezwungen werden, dann wird es über die uns bekannten Leitern wieder hinaufsteigen. Fügen Sie dem noch hinzu, dass es nicht mehr spielt und seine Ernährung umgestellt wird, und Sie werden zustimmen, dass eine so umwälzende Revolution, die sich plötzlich um diesen zarten Organismus herum vollzieht, ausreicht, damit dieser junge Mensch von einer inneren Pein geprägt wird, die man schon bald in seinen Gesichtszügen liest. So sieht man ihn bald blass und mager werden; sein Appetit nimmt ab; er wird traurig; er sträubt sich gegen Bewegung; schließlich zeigt er alle bereits bekannten Symptome von Verfall und körperlicher Erschlaffung: das ist die Phase der Akklimatisierung."

Erst nach der großen Arbeiterrevolte von 1886 und der Panik, die sie bei der Bourgeoisie auslöste, wurde 1889 ein Gesetz erlassen, das die industrielle Arbeit für Kinder unter 12 Jahren verbot.

Und erst 1911 wurde die Arbeit unter Tage für Kinder unter 14 Jahren verboten.

Das vollständige Verbot der Arbeit für Kinder unter 14 Jahren und die Schulpflicht bis zu diesem Alter erfolgten erst 1914.

Die Bourgeoisie wurde bei der Dekoration ihrer Börse, wo Kohle, Textilien und geruchslose Aktien weit entfernt von Kinderschweiß, -blut und -tränen den Besitzer wechselten, wohl nicht von Skrupel geplagt. Aber es gab auch andere. Der politische Flüchtling in Brüssel, Victor Hugo, schrieb 1856:

Où vont tous ces enfants dont pas un seul ne rit ? 
Les doux êtres pensifs que la fièvre maigrit ?
Les filles de huit ans qu'on voit cheminer seules ?
Ils s'en vont travailler quinze heures sous des meules ;
Ils vont, de l'aube au soir, faire éternellement
Dans la même prison le même mouvement.
Accroupis sous les dents d'une machine sombre,
Monstre hideux qui mâche on ne sait quoi dans l'ombre,
Innocents dans un bagne, anges dans un enfer,
Ils travaillent. Tout est d'airain, tout est de fer.
Jamais on ne s'arrête et jamais on ne joue.
Aussi quelle pâleur ! La cendre est sur leur joue.
Il fait à peine jour, ils sont déjà bien las.
Ils ne comprennent rien à leur destin, hélas !
Ils semblent dire à Dieu : « Petits comme nous sommes,
Notre père, voyez ce que nous font les hommes ! »
O servitude infâme imposée à l'enfant !
Travail mauvais qui prend l'âge tendre en sa serre,
Qui produit la richesse en créant la misère,
Qui se sert d'un enfant ainsi que d'un outil !
Progrès dont on demande : « Où va-t-il ? Que veut-il ? »
Qui brise la jeunesse en fleur ! Qui donne, en somme,
Une âme à la machine et la retire à l'homme !
Que ce travail, haï des mères, soit maudit !
O Dieu ! qu'il soit maudit au nom du travail même,
Au nom du vrai travail, sain, fécond, généreux,
Qui fait le peuple libre et qui rend l'homme heureux !



Quellen: Jean Neuville: la condition ouvrière au XIXe siècle

Manuel Schmitz: Monumental – Macht und Architektur in Brüssel


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Wie haben die das gemacht?!